- Kulturkritik und Fortschrittskritik: Erste Ansätze
- Kulturkritik und Fortschrittskritik: Erste AnsätzeKultur und Kulturkritik gehören in der Moderne aufs engste zusammen. Kulturkritik ist selbst ein Teil der Kultur, die sie kritisiert; aber auch die Kultur ist von ihrer Kritik abhängig, denn wo Kritik verstummt, breitet sich Unkultur aus. Die künstlerischen, wissenschaftlichen und philosophischen Thematisierungen von Kultur und Fortschritt wurden seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wie ein Schatten von Kritik, Protest und Warnung begleitet. Dieser Schatten wurde im Verlauf des 19. und insbesondere des 20. Jahrhunderts gleichsam immer länger, sodass er zunehmend als Anzeichen einer einbrechenden Nacht aufgefasst wurde, in der das Licht der Vernunft keine Kraft mehr hat. Die Nacht der technifizierten Barbarei wurde spätestens in den beiden Weltkriegen und den Völkermorden unseres Jahrhunderts Wirklichkeit. So wurde der Glaube obsolet, die Menschheit entwickle sich in einer vorgezeichneten Bahn zum Besseren, Höheren, Vollkommeneren fort. Heute orientiert sich nicht zuletzt die Ökologiedebatte an der Frage, wie wir Fehler und Missstände der fortschreitenden Zivilisation, die dazu beitragen, die Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören, vermeiden können.In der Antike und im christlichen Mittelalter war die Idee eines sittlich-kulturellen Fortschritts noch eingebettet in die Vorstellung einer übergreifenden göttlichen oder natürlichen Weltordnung. Fortschritt war hier gleichsam nur ein Segment in einem kreisförmigen Umlauf der Zeiten. Allmählich aber brach sich eine lineare Fortschrittsidee Bahn. Schon Augustinus verband mit der Einmaligkeit des Erscheinens Christi den Gedanken einer linear verlaufenden Weltzeit von der Schöpfung bis zur Wiederkehr Christi. Fortschritt galt ihm als Heilsgeschichte der Erlösung, was noch bis zur Fortschrittsidee von Hegel und Marx nachwirkte. In der Philosophie des Mittelalters reflektierte man über das Verhältnis zu den traditionellen Autoritäten und entwickelte einen Begriff des »Fortschritts im Wissen«, der dann seit der Renaissance durch Mathematik, Naturwissenschaften, technische Erfindungen wie das Schießpulver, der Kompass und die Buchdruckerkunst sowie durch geographische Entdeckungen entscheidend erweitert wurde.Im 17. und 18. Jahrhundert wandelte sich der Begriff der Vernunft von einem metaphysischen System ewiger Wahrheiten, aus dem das Einzelne deduktiv abzuleiten war, zu einer methodisch gesicherten Tätigkeit des Wissenserwerbs, bei der, nach den Vorbildern Galileis und Newtons, von den einzelnen Phänomenen auszugehen war, um durch Analyse und Induktion auf allgemeine Prinzipien zu schließen. Fortschritt wurde nun nicht nur als unendliche Erweiterung des Wissens und als Perfektionierung der Naturbeherrschung verstanden, sondern auch als Emanzipation von der Autorität einer Tradition, die ihre legitimatorische Kraft für die gesellschaftliche Ordnung verloren hatte. Er erschien als geschichtliche Perspektive der gesellschaftlichen Entwicklung hin zu ihrer vernünftigen Verfasstheit. In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts erreichte diese Überzeugung ihren Höhepunkt. Der Vergleich zwischen Antike und Moderne wurde erweitert durch einen weltgeschichtlich umspannenden Blick auf die unterschiedlichen Völker und Kulturen. Man entwarf nun Universalgeschichte in weltbürgerlicher Absicht. Seit der Wende zum 19. Jahrhundert fanden die Termini »Fortschritt« und »Kultur« Eingang in die Wörterbücher. Die Idee des Fortschritts der Menschheit als ein sich sich selbst entwickelndes Ganzes erfasste alle Sphären des Lebens, wurde aber auch zunehmend trivialisiert und verkam schließlich zur herrschenden Ideologie des Industriezeitalters.Die Kritik an Kultur und Fortschritt kann grundsätzlich zwei verschiedene Formen annehmen: als Kritik am Fortschrittsglauben oder als Kritik an der Fortschrittsidee. Einerseits wird der mehr oder weniger naive Glaube an den Fortschritt kritisiert, mit dem fälschlicherweise von einzelnen (fortschrittlichen) Bereichen auf andere geschlossen wird, oder der die negativen Neben- und Rückwirkungen einzelner positiver Entwicklungen ausblendet. Diese Kritik an besonderen Fortschritten ist Kritik an nicht genügend Fortschritt im Namen einer umfassenderen Idee des Fortschritts. Andererseits kann aber auch diese Idee selbst infrage gestellt werden. Etwa durch die Annahmen, dass jeder Fortschritt in einem Bereich zugleich auch Zerstörung und Verlust in einem anderen Bereich bedeutet; dass die Vorstellung einer linearen Entwicklung der Menschheit in Richtung Vervollkommnung selbst ein Trugbild ist; dass Individuen und Kulturen in ihrer Entwicklung Formen ausbilden, die grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander stehen. Bis in die Gegenwart wechselten sich beide Arten von Fortschrittskritik immer wieder ab, lieferten aber auch bequeme Stichworte, um das Misslingen von Fortschritt und Kultur unter Berufung auf eine angeblich feststehende, zum Bösen neigende menschliche Natur zu rechtfertigen oder kulturrelativistisch hinzunehmen.Während vor allem die Erfolge von Naturwissenschaft und Technik die Vorstellungen von Fortschritt und Kultur seit Beginn der Moderne beflügelten, wurde zugleich offenbar, dass von einem entsprechenden Höhenflug der moralischen Kompetenzen der Menschen nicht ebenso die Rede sein konnte. Deren Beförderung war eben deshalb für die Aufklärer wie Voltaire, Denis Diderot und die anderen Enzyklopädisten eine geschichtlich nachzuholende Aufgabe der Vernunft. In stolzer Hoffnung vertrauten sie darauf, dass die soziale Not, die sie nun nicht mehr als gottgewollt hinnehmen wollten, durch die Beseitigung der Unvernunft (insbesondere bei den Regierenden) sowie durch wohltätige Reformen gelindert und schließlich ganz aus der Welt geschafft werden würde.Es war nun ein Häretiker der Vernunft, Jean-Jacques Rousseau, der mit seiner radikalen Kritik am Fortschrittsglauben dem guten sozialen Gewissen der Aufklärer leidenschaftlich widersprach. Er machte für die soziale Not nicht den Mangel an Vernunft (die meist zu spät kommt und zu schwach ist) verantwortlich, sondern den menschlichen Willen, der im Verlauf des Prozesses der Zivilisation unnatürlich, künstlich, falsch und böse geworden sei. Damit wurde das soziale Problem zu einem moralischen Problem, und die Kultur- und Fortschrittskritik zu einer weit reichenden Anklage gegen die Unglaubwürdigkeit der Menschen. Rousseau verband die Kritik an der Verderbtheit der menschlichen Natur allerdings gleichzeitig mit der Überzeugung, dass sie die Fähigkeit habe sich zu vervollkommnen. Damit verfolgte er eine Kritik, die sich nicht, wie noch bei den Enzyklopädisten, auf einzelne Phänomene beschränkte, sondern diese als Ausdruck einer gesellschaftlichen Krisensituation zu begreifen suchte. Er klärte die Aufklärung über sich selbst auf.Viele kulturkritische Motive, die sich bei Rousseau finden, waren an sich nicht neu. Bereits in der antiken und christlichen Tradition waren die Warnung vor der Eitelkeit des Wissens und das Lob der einfachen Tugenden des Herzens verbreitet. Und auch im Humanismus und in der Renaissance gab es bereits Kritik an den sozialen Verhältnissen. Nicht einmal die Bitterkeit, glühende Leidenschaftlichkeit und heilige Empörung, mit der Rousseau seine Anklagen gegen die Kultur schleuderte, waren ganz neu. Neu war aber die Unbedingtheit, mit der er soziale Tugenden und Wahrheit unter dem Aspekt des modernen Individualismus untrennbar miteinander verband. Hierfür machte er eine einzige Quelle und Autorität namhaft, nämlich die Sicherheit des inneren Gefühls, das Gewissen und Wollen des Ich. Neu war der grundlegende Gedanke der sozialen Verantwortlichkeit aller. Rousseau benannte keine einzelnen Schuldigen, sondern machte der Gesellschaft als ganzer den Prozess. In jedem Menschen lebte, wenn auch verstümmelt, der gute, natürliche Mensch und zugleich der böse, gesellschaftliche Mensch, und so zielte seine Kritik auf den Kampf zwischen dem guten, echten und dem künstlichen und falschen Willen in uns, zwischen notwendiger Eigenliebe (»amour de soi-même«) und fataler Eigensucht (»amour-propre«). Mit dieser Kulturkritik, die die gesellschaftlichen Institutionen grundsätzlich der souveränen Entscheidung des Volkes anheim stellte, wurde Rousseau schließlich zur Kultfigur der Französischen Revolution.Indem Rousseau den Übergang vom »Naturzustand« zum »gesellschaftlichen Zustand« beschrieb, bediente er sich der Geschichte noch sehr frei, mehr im Sinne einer lehrhaft eingesetzten Metaphorik als einer Tatsachenwissenschaft. Das strikte historische Denken sollte eine Errungenschaft erst des beginnenden 19. Jahrhunderts werden. Auf dieses Denken (und seine Vorläufer) stützte sich nun jene andere Form von Kulturkritik, die der Idee des Fortschritts selber. Sie äußerte sich längst nicht so spektakulär wie die Kritik am Fortschritts- und Vernunftglauben à la Rousseau, war aber auf Dauer nicht weniger folgenreich.In den während des 17. und 18. Jahrhunderts beliebten Vergleichen zwischen den Wissenschaften und Künsten der Moderne und denen des Altertums hatte sich schon der Gedanke einer geschichtlichen Verschiedenheit der Epochen jenseits des Fortschrittsgedankens angebahnt. Er wurde verstärkt durch Reiseberichte über entfernte Völker und Kulturen (einschließlich der »Wilden«), wobei in der Sicht der Aufklärer der Vergleich mit den eigenen Lebensformen oft genug zu deren Ungunsten ausfiel. Vollends brachte im 19. Jahrhundert die Abkehr der Geschichtsforschung von den Vorgaben angeblicher geistiger oder natürlicher Entwicklungsgesetze auch eine Ablösung vom Prinzip des Fortschritts mit sich. Die selbstgewisse Annahme, die Gegenwart und Zukunft der eigenen Kultur seien die Erfüllung aller vergangenen Epochen, erschien nun als vermessener Irrtum. Zugleich entwarf die Romantik das Bild natürlicherer Lebensformen der Vergangenheit, an dem sie die Entfremdungsphänomene und Verlusterfahrungen des beginnenden Industriezeitalters maß. Das universalhistorische Fortschrittsschema verlor seine Überzeugungskraft nicht zuletzt durch die Erfahrung, dass die weltweit sich ausbreitende und fortschreitende moderne Zivilisation all das, was ihr nicht förderlich ist, dem Untergang überantwortet.Prof. Dr. Gunzelin Schmid NoerrScheible, Hartmut: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Lizenzausgabe Reinbek 1988.
Universal-Lexikon. 2012.